Angesichts von Energiekrise und hoher Inflation läuft Klimaschutz Gefahr als zweitrangig wahrgenommen zu werden. Die Herausforderungen des Klimawandels für den Lebensmittelhandel und wie man ihnen begegnet wurden anlässlich der Jubiläumsfeier 75 Jahre tegut teils hitzig diskutiert. Besonders Marc-Aurel Boersch, Vorstandsvorsitzender Nestlé Deutschland, geriet schwer in die Kritik. „Es ist super einfach zu sagen, Nestlé ist der Arsch von allen“, entgegnete er und verwies auf bereits erreichte Nachhaltigkeitsziele und welche der Konzern als nächstes angehe.
Die Corona-Pandemie hat weltweit Lieferketten zusammenbrechen lassen, auch in Deutschland musste sich die Kundschaft an Lücken in den Regalen gewöhnen. „Ich vermute, dies ist gerade mal eine Vorahnung dessen, was uns blüht, wenn wir das Klima nicht in den Griff kriegen. Deswegen haben wir bei Nestlé beschlossen, unseren Klimafußabdruck bis 2050 auf Null zu senken. Unseren Höhepunkt beim CO2-Ausstoß haben wir 2019 erreicht und seitdem 15 Prozent eingespart. Wir müssen jetzt extrem handeln und unsere Unternehmensgröße einsetzen, um einen großen Unterschied zu machen“, erklärte Boersch. Moritz Tapp, Vorstandsmitglied BUNDjugend, geht erwartungsgemäß die ökologische Transformation des Konzerns angesichts von 16,9 Milliarden Franken Gewinn im vergangenen Jahr nicht schnell genug: „Ein Unternehmen in der Größe von Nestlé kann einen unglaublich großen Beitrag leisten, allerdings sind die zu beobachteten nachhaltigen Fortschritte vergleichsweise verschwindend gering.“
Auch Demeter-Vorstand Dr. Alexander Gerber äußerte Kritik. „Nestlé stellt Produkte her, die mit gesunden Lebensmitteln nichts mehr zu tun haben. Man muss nur schauen, wie sich die Schokolade vom Kakao- und Vollmilchanteil in den letzten Jahren entwickelt hat. Heute ist da viel Zucker drin und für den Geschmack kommen Zusatzstoffe rein. Das Produkt wird dadurch billiger, aber dem Kunden zum gleichen Preis verkauft. Das ist eine unehrliche Art und Weise Lebensmittel herzustellen.“ Dem entgegnete Boersch, Nestlé habe als eines der ersten Unternehmen den Nutri-Score eingeführt, während Mitbewerber untätig geblieben seien.
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Klimaneutrale Milch und verbindliche Umwelt-Label
Ausdrücklich zog Boersch seinen imaginären Hut angesichts dessen, was die ökologische Landwirtschaft leistet, konnte sich allerdings einen rhetorischen Seitenhieb in Richtung Gerber wohl nicht verkneifen. „Das esoterische Hokuspokus bei Demeter finde ich auch ganz charmant. Esoterik finde ich super spannend, da habe ich auch Spaß dran.“ Unter dem Strich zähle jedoch die Wissenschaft. Gerber nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. Gemeinsam mit der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen arbeitet Nestlé an der klimaneutralen Milch. Die erste „Klimamilchfarm“ betreibt der Landwirt Mario Frese in Nordhessen. „Das ist eine von 20, die wir jetzt haben, bis nächstes Jahr sollen es 45 sein.“ Konkret forscht man an Futterzugaben, die den Methanausstoß der Kühe um 90 Prozent reduzieren sollen. Ein weiterer Hebel sei es, Kot und Urin der Tiere zu trennen, damit sich keine schädlichen Gase bilden. Weiterhin kündigte Boersch an, dass bis 2025 alle bezogenen landwirtschaftlichen Rohstoffe aus regenerativer Landwirtschaft stammen sollen, die nachweislich Humus aufbaut und Umweltschäden repariert. Das müsse nicht zwingend durch ökologische Wirtschaftsweise geschehen. „Bis 2025 wollen wir die gesamte Lieferkette des Kakaos transparent machen und ich kann mir vorstellen, dass wir das bis 2030 auf allen unseren Produkten neben Nutri-Score und Umwelt-Label ausweiten.“ Boersch betonte, Nestlé sei ein großer Verfechter eines Umwelt-Scores. Die Politik müsse dafür sorgen, dass europaweit alle Produkten ein Umwelt-Label aufweisen müssen. „Das würde Menschen beispielsweise dabei helfen, selbst zu entscheiden wie viel Fleisch sie essen, wenn der durch das eigene Konsumverhalten verursachte CO2-Ausstoß transparent ist.“
Dem konnte sich Tapp grundsätzlich anschließen. Die Politik schiebe noch zu viel ökologische Verantwortung auf die einzelne Verbraucherin und auf den einzelnen Verbraucher. „Als junger Student gehe ich mit dem Kompass einkaufen, was ich mir überhaupt leisten kann. Dabei versuche ich zu dem gesündesten, hochwertigsten und klimaschonendsten Lebensmitteln zu greifen. Das ist der Knackpunkt, denn viele Menschen können es sich nicht leisten, auf diese Kriterien zu schauen. Nicht die Konsumenten sind verantwortlich. Politik, Erzeuger und Handel sind gefordert, für alle Menschen Lebensmittel anzubieten, die gesund, nachhaltig erzeugt und klimaschonend sind.“ Eine Möglichkeit politischen Einfluss zu nehmen, seien verringerte oder gar erlassene Mehrwertsteuersätze für pflanzliche Lebensmittel. Dr. Petra Kühne, Vorständin Arbeitskreis für Ernährungsforschung, zeigte sich skeptisch. „Die Diskussion über die Mehrwertsteuer könnten wir auch überbewerten. Ob eine Senkung die Ernährungsgewohnheiten verändert, wage ich zu bezweifeln.“ Zudem mahnte sie angesichts der Fülle an Siegeln und Labeln an, Konsumenten nicht zu überfordern.
Boersch: „Dass Nestlé in Deutschland nicht das beste Image hat, weiß jeder.“
Als Tapp in seiner wiederholten Rundum-Kritk an Nestlé auf den Babymilch-Skandal zu sprechen kam, platzte Boersch sichtlich der Kragen. „Der Babymilch-Skandal ist 50 Jahre her. Schaut doch mal, was wir daraus gelernt haben. Natürlich machen wir Fehler, aber es interessiert sich hinterher niemand mehr, was wir dadurch verändert haben. Feindbilder zu kreieren ist typisch für unser Land. Es ist super einfach zu sagen, Nestlé ist der Arsch von allen. Das wird unseren Mitarbeitern in Deutschland, die jeden Tag Qualität sowie Nachhaltigkeit weiter forcieren, nicht gerecht. Ich fühle mich verantwortlich deutlich zu machen wie bemüht wir sind, aber ich fühle mich auch beleidigt.“ Im Sektorenvergleich sei man in Sachen ökologischer Nachhaltigkeit am strengsten. „Ich mache das jetzt seit 20 Jahren, bin Familienvater, habe drei Kinder großgezogen. Wenn man hört, was hier so gesagt wird, müsste ich sofort bei Nestlé kündigen. Ganz ehrlich, es ermüdet mich immer wieder den gleichen, nicht recherchierten Scheiß zu hören. Ich lade jeden ein, der hier klatscht weil er sich freut, das zu hören was er denkt, mich in Frankfurt am Main zu besuchen und zu schauen, ob wir wirklich nur profitorientiert sind.“
Es ist genug für alle da
Moderatorin Janine Steeger gelang es teilweise die Wogen zu glätten, damit einigermaßen sachlich weiter diskutiert werden konnte – auch wenn Boersch sich noch nach dem Podium extrem verärgert zeigte. Tapp erkannte an, dass uns das bisherige Wirtschaftssystem einen großen Wohlstand beschert hat, mahnte im gleichen Atemzug jedoch, die Grenzen des Wachstums seien erreicht. Bereits heute würden genügend Lebensmittel produziert, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Allerdings sind sie ungerecht verteilt: Während im reichen Norden Genießbares aus unterschiedlichen Gründen im Abfall landet, hungern anderswo Menschen.
„Unsere Generation muss sich vorrangig Gedanken machen, wie wir in 20 Jahren mit veränderten Klimabedingungen, häufigeren Extremwetterereignissen, Dürren und damit verbundenen Ernteausfällen leben.“ Das angesichts der gewaltigen Flutkatastrophe in Pakistan herrschende Elend könnten wir in Europa bequem in unseren Stühlen sitzend gar nicht nachvollziehen. Daher dürften im Handel künftig nur noch Produkte einen Platz finden, die zu einer lebenswerten Welt und sozial funktionierenden Gesellschaft beitragen. Boersch erteilte er allerdings eine klare Absage: „Deswegen stelle ich mir in der Zukunft keine Produkte mehr von einem Konzern wie Nestlé in den Regalen vor.“
Hinweis: Die Jubiläumsfeier fand am 25. September 2022 in der Hessenhalle Alsfeld statt.
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