Greifen Konsumenten bewusst zur Bio-Milch, stellen sie sich glückliche Kühe auf der grünen Weide vor. Natürlich tragen alle Tiere ihre Hörner, wie es das Bild auf der Verpackung auch suggeriert. In der Realität haben sich das Enthornen und die hornlose Zucht allerdings auch in weiten Teilen der ökologischen Landwirtschaft ausgebreitet. „Wir blicken auf eine gemeinsame Kulturgeschichte mit horntragenden Rindern zurück. Ohne es zu merken, stehen wir derzeit allerdings kurz vor deren Ende, und am Beginn einer Ära mit hornlosen Rindern“, warnt Ulrich Mück, Agrar-Ingenieur vom Anbauverband Demeter.

Bild: Jens Brehl – CC BY-NC-SA 4.0
Jens Brehl: Welche Bedeutung haben Hörner für Rinder?
Ulrich Mück: Wir können uns aus dem menschlichen Verständnis nur vorsichtig an die Bedeutung der Hörner für das Wesen der Rinder annähern – aber sie ist auf jeden Fall vielschichtig. Deutlich ist ihre Rolle für die Kommunikation in der Herde. Rinder sehen nur schemenhaft und können anhand der Form der Hörner ihre Artgenossen besser identifizieren und die Gesten der Kopfbewegungen leichter interpretieren. Das ist besonders wichtig, damit sich im Rang niedere Tiere unterordnen und hochrangigen Vertretern rechtzeitig ausweichen können. Damit vermeiden sie Konflikte. Ist die Rangordnung zweifelsfrei geklärt und für alle leicht ersichtlich, ist die Herde ausgeglichener.
In Rangkämpfen kommen auch die Hörner zum Einsatz, allerdings nicht um mit ihnen gezielt zuzustoßen. Vielmehr können sich Kontrahenten beim Gegenüber Kopf-an-Kopf „einhaken“ und schieben. Wer hier stärker ist, hat gewonnen. Dennoch verletzten sich Tiere durch Hörner auch in ruhigen Herden ab und an – in der Regel bleibt es aber bei Striemen im Fell.
Hörner sind als eigene Organe der Rinder anzusehen. Sie bestehen aus Horn und dem darunter liegenden durchhöhlten Gliedmaßenknochen. Sie sind intensiv durchblutet, mit Nerven durchzogen und stehen im Austausch mit dem Stoffwechsel. Unter anderem weil in die Hörner der Rinder auch die ausgedehnten Stirnhöhlen ragen, die von innen mit Schleimhäuten überzogen und durchlüftet sind und in die Pansengase aus dem Maulraum eintreten, wird zudem ein Zusammenhang mit der Verdauung vermutet. Allerdings gibt es dazu noch keine Forschungsergebnisse.
Über die Hörner können Rinder außerdem ihre Körpertemperatur regulieren, wodurch sich Weidetiere bei Hitze wohler fühlen.
Jens Brehl: Anbauverbände wie Bioland erlauben ihren Mitgliedern in Ausnahmefällen, Rinder zu enthornen. Ist das auch bei Demeter möglich?
Ulrich Mück: Nein, bei Demeter dürfen Kühe nicht enthornt werden. Hörner sind Wesensmerkmale der Kühe. Zudem sind sie wichtige Bestandteile im biologisch-dynamischen Anbau. Unter anderem werden sie mit Mist oder Quarz gefüllt, um damit homöopathische Heilmittel für Böden und Pflanzen herzustellen. Es wäre widersinnig, wenn wir hornlose Rinder halten würden.

Jens Brehl: Als Alternative zum Enthornen wird die hornlose Rinderzucht ins Feld geführt, bei der sämtliche Nachkommen hornlos werden. Seit wann spielt das in der Erwerbslandwirtschaft eine Rolle?
Ulrich Mück: Ab den 60er Jahren hat man in der Landwirtschaft Laufställe gebaut. Damit die hohen Kosten getragen werden konnten, wurden möglichst viele Tiere darin untergebracht. Mit horntragenden Rindern funktioniert das nicht. Zu enge Laufställe und die Art der Futtervorlage stören jedoch den sozialen Frieden in den Herden. Rinder haben eine Hoheitszone, im Fachbegriff eine Individualdistanz. Stallhaltungen schaffen oft die Situation, dass niederrangige Tiere kaum oder nicht rechtzeitig ausweichen können und Höherrangige ihr Recht körperlich einfordern. Das führt zu einer aggressiven Unruhe in der Herde. Von Seiten der Tiere steckt da keine Bosheit dahinter.
Das Enthornen verbessert diese Herdensituation übrigens nicht. Es gibt mehr Auseinandersetzungen in hornlosen Herden wie in horntragenden. Lediglich das Auftreten von Verletzungen durch Hörner wird geringer. Auf der Weide stellen die Hörner auch heute kein Problem dar.
Jens Brehl: Warum hat das Halten von hornlosen Rindern dennoch zugenommen?
Ulrich Mück: Wer einen Laufstall baute, dem wurde seitens der staatlichen Stallbauberater dringend empfohlen seine Tiere zu enthornen. Der Frage wie Laufställe aussehen müssten, damit horntragende Tiere darin gehalten werden könnten, wurde viele Jahrzehnte nicht nachgegangen. Mittlerweile liegen für Milchviehbetriebe allerdings Empfehlungen und Beratungsmerkblätter vor.
Zudem werden im Gegensatz zu früher auf den Höfen nicht mehr zehn Tiere gehalten, so gibt es heute im ökologischen Landbau auch Betriebe mit 200 Kühen und mehr. In gewisser Weise haben wir uns ein Stück von den Tieren entfremdet, denn mancherorts ist der individuelle Mensch-Tier-Bezug nicht mehr so eng. Manche Tierhalter wurden ängstlicher, können Situationen und Rinder nicht mehr so gut einschätzen und sind dadurch nicht zu jeder Zeit Herr der Lage. Belegbare Zahlen, dass das Verletzungsrisiko für Menschen bei enthornten Kühe tatsächlich abnimmt, gibt es aber nicht. Beim naturgemäßen Halten von Rindern müssen die Tierhalter bereit sein, auch mit Hornkühen umgehen zu können. Das erfordert etwas mehr Aufmerksamkeit und Zeit. Kühe an sich sind keinesfalls grundsätzlich aggressiver nur weil sie Hörner haben.
Im Grunde sind es heute wirtschaftliche Aspekte. Das Halten von und Stallbau für horntragende Tiere ist aufwendiger. Die Mehrkosten für den Stallbau wurden mit etwa drei Cent je Liter Milch berechnet. Das müssten die Bauern bekommen, die horntragende Milchkühe halten.
Jens Brehl: Gehen bei der hornlosen Zucht nicht auch ungewollt andere Wesensmerkmale verloren?
Ulrich Mück: Das ist die große Frage – ich selbst bin kein Zuchtexperte oder Genetiker. Allerdings gibt es bei der hornlosen Zucht von Ziegen mitunter Probleme. So werden vermehrt zwittrige Zicklein geboren, die für Zucht und Milchziegenhaltung nicht tauglich sind.
Noch sind viele Zusammenhänge ungeklärt. Allerdings sind grundsätzlich alle Wiederkäuer genetisch dazu veranlagt, Stirnbeinfortsätze, also Hörner oder Geweih zu bilden. Diese Eigenschaft ist derart eng mit ihrem Wesen verbunden, dass zu befürchten ist, hornlose Nachkommen der Rinder könnten künftig weniger widerstandsfähig gegenüber Krankheiten oder Umweltsituationen sein. Man züchtet zudem teils mit nur wenigen hornlosen Linien, die sich wie Inzucht in der gesamten Population ausbreiten. Dadurch geht genetische Vielfalt verloren.

Jens Brehl: Was interessiert es Fleisch- und Milchkonsumenten, ob Rinder Hörner tragen oder nicht?
Ulrich Mück: Gerade bewusste Bio-Kunden gehen größtenteils davon aus, dass sich der ökologische Landbau an naturgemäßen Prinzipien orientiert. Sie erwarten Rinder mit Hörnern und würden einen Eingriff wie die hornlose Zucht wohl kaum befürworten. Allerdings wissen viele Verbraucher nicht, wie sich die konventionelle und ökologische Landwirtschaft in diesem Punkt bereits verändert haben.
Jens Brehl: Die hornlose Zucht ist schon lange auch im ökologischen Landbau angekommen. Hätte man nicht schon viel früher andere Weichen stellen müssen, anstatt sich von der konventionellen Agrar-Industrie abhängig zu machen?
Ulrich Mück: Von Seiten Demeter war die Weichenstellung für horntragende Rinder immer klar und die Ausrichtung auf die hornlose Zucht ging von konventioneller Seite aus. Mittlerweile existiert in Deutschland eine enorme Marktmacht der Hornloszüchtung mit ausgeprägten wirtschaftlichen Interessen. Ich werde eine vollständige Kehrtwende wohl kaum noch erleben. Das naturgemäße Halten von horntragenden Rindern ist weiter möglich, aber es wird immer schwerer werden. Heute geht es verstärkt darum, horntragende Rassen und Zuchtlinien zu erhalten.
In Bayern nimmt der Viehhandel teilweise keine horntragenden Kälber mehr an, da sich unter anderem der konventionelle Viehhandel, Zuchtverbände und der bayerische Bauernverband darauf verständigt haben. Folgen diesem Beispiel auch andere Bundesländer, wird sich die hornlose Zucht sehr rasch weiter verbreiten, weil Landwirte ihre Kälber nur noch auf diese Weise vermarkten können. Auch Bio-Bauern könnten sich mehr als bisher dem Druck beugen. Innerhalb weniger Jahre wären alle Rinder hornlos. Da die Hornlosigkeit dauerhaft vererbt wird, gäbe es dann auch kaum noch ein Zurück.
Ich befürchte, die genetische Vielfalt können nur einzelne Akteure im ökologischen Landbau sichern. Allerdings vermögen es die Betriebe nicht, sämtliche notwendigen Forschungsprojekte und Erhaltungsmaßnahmen zu finanzieren. Gefragt sind die Politik und insbesondere bewusste Konsumenten, denen Milch und Fleisch von horntragenden Rindern ein wenig mehr wert sind.
Jens Brehl: Dann hoffen wir, dass sich der ökologische Landbau auch in Sachen Tierzucht emanzipieren kann. Haben Sie vielen Dank für dieses offene Gespräch.
Dass es bei Demeter keine Betriebe mit hornlosen Rindern gibt, stimmt nicht. Im Rems-Murr-Kreis (Baden-Württemberg) gibt es einen solchen Betrieb, die „Erlacher Höhe“. Dieser Demeter-Betrieb hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen, weil die Berufsgenossenschaft das Halten hornloser Rinder verlangt hat, da sonst die Verletzungsgefahr für die mitarbeitenden Betreuten Bewohner der Einrichtung zu groß sei.
Ich bin selber Bio-Landwirt (Bioland) und unbedingt der Meinung, dass Kühe ihre Hörner brauchen, sowie ein eindeutiger Gegner der Zucht auf Hornlosigkeit. Aber dafür brauche ich keinen anthroposophischen Hokus-Pokus als Begründung. Das obige Beispiel entlarvt das Gefasel um die Hörner bei Demeter als das, was es ist: dummes Geschwätz! Denn nähme Demeter seine eigenen Aussagen ernst, hätte eine solche Ausnahmegenhemigung nie erteilt werden dürfen.
Spannend! Du hast ja schon einiges erzählt, aber vieles war mir ganz neu.
Was ich nicht verstanden habe: Woher stammen die Hörner bei demeter, die mit Mist oder Quarz gefüllt werden, um damit homöopathische Heilmittel herzustellen?
Die Einblicke hat ja Ulrich Mück im Interview gewährt – welches übrigens länger dauerte, als ich vorher gesagt habe. Trotzdem hat er meine Fragen geduldig beantwortet.
Rinder werden irgendwann einmal geschlachtet und dann hat man auch Hörner zur Verfügung. Du hast ja mein Buch „Regionale Biolebensmittel“. Dort geht Landwirt Thorsten Keuer auf Seite 23 kurz auf die Präparate und Kuhhörner ein.