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Essen zwischen Genuss und Zweiklassengesellschaft

Größer könnten die Spannungsfelder kaum sein. Während wir in Deutschland im Überfluss leben und uns sogar den „Luxus“ erlauben rund ein Drittel unserer Lebensmittel als Abfall zu entsorgen, hungern weltweit 800 Millionen Menschen. Bio-Hersteller und Öko-Landwirte sollen wirtschaftlich arbeiten und nebenbei die Umweltprobleme lösen. Kunden sollen im hektischen Alltag tief greifende Gedanken über eine gesunde Ernährung machen, während ihnen nahezu im Wochentakt neue Trends und so genannte „Superfoods“ mit Marketing-Trommelfeuer um die Ohren gehauen werden. Die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL) lud unter dem Motto „Wie essen wir morgen?“ gestern gemeinsam mit Slow Food Deutschland und Anbauverband Demeter Vertreter der Bio-Branche ins Morgensternhaus nach Fulda, um diese und weitere Spannungsfelder zu beackern.

Wer sich innerlich gewappnet hatte, zahlreiche Nährstofftabellen auf überfrachteten Power-Point-Präsentationen über sich ergehen lassen zu müssen, konnte schnell aufatmen. Leibliche Genüsse und Lebensfreude bildeten den Kern des ersten Vortrags. PD Dr. Monika Kritzmöller vom Institut Trends und Positionen an der Universität St. Gallen plädierte eloquent für das Lustprinzip. Geschmack sinnlich wahrzunehmen stand im Fokus. „Öko-Hersteller sind darauf angewiesen, dass die hohe Qualität auch geschmeckt wird. Ansonsten wird sie nicht wahrgenommen.“ Und Geschmack ließe sich schulen. Wer einmal erlebt hätte, wie gutes Brot mundet, der könne kaum noch zu minderwertiger Ware greifen. „Fokussieren Sie sich auf Ästhetik, statt auf Verzicht. Setzen Sie auf das Genussprinzip und leibliches Empfinden. Kommunizieren Sie Ihre Storys und Hintergründe, aber ohne erhobenem Zeigefinger“, forderte Kritzmöller die anwenden Produzenten auf. Wo bei so mancher Werbung nur ein Schein aufgebaut werde, böte die Bio-Branche echte Substanz.

So mache Trends gelte es zu hinterfragen. Als Beispiel nannte sie übertriebene „Frei-von-Produkte“, von denen stolz erklärt wird, was sie alles nicht beinhalten. „Detox ist kollektive Panikmache.“ Die Werbung suggeriere den Menschen, sie seien grundsätzlich vergiftet. Kritzmöller verglich es mit modernem Ablasshandel. Mit Detox-Produkten würde man sich von kulinarischen Sünden frei kaufen.

Ernährungswende jetzt oder nie

„Entweder wir entscheiden uns für eine Ernährungswende oder die Natur kommt ohne uns aus“, formulierte es Friedbert Förster, ehemaliger Marketingleiter der Hofpfisterei, dramatisch. Bio-Hersteller möchten hochwertige Produkte bieten, Kunden begeistern, gut wirtschaften und gleichzeitig die Natur erhalten. Leider könne die deutsche Branche ihre Marktanteile nicht in dem Tempo steigern, wie Umweltprobleme zunehmen würden.

Zudem bedeute der einfache Zugang zu Wissen nicht automatisch, auch entsprechend zu handeln. „Trotz ‚Globalisierungsgeschwätz‘ in Zeitungsartikeln, interessieren sich viele Menschen nicht dafür, was in anderen Teilen der Welt geschieht. Wir werfen Lebensmittel weg, woanders wird gehungert.“ Försters politische Forderung: Verursacher von Umweltverschmutzung müssen für die angerichteten Schäden aufkommen. Für Umweltschäden durch die industrielle Landwirtschaft wird in der Regel die Allgemeinheit zur Kasse gebeten. Später erklärte Dr. Alexander Beck, geschäftsführender Vorstand AöL, es sei eine wichtige politische Aufgabe, sich für Kostenwahrheit einzusetzen.

„Superfood“, nein Danke!

Dr. Jasmin Peschke vom Goetheanum Dorach wunderte sich, warum sich Krankenkassen nicht stärker in Puncto gesunder Ernährung einbringen. Auf der anderen Seite würden Konsumenten unentwegt neue „Superfoods“ präsentiert. Zeitweise sind Lebensmittel wie Kokosöl oder Avocados angebliche Heilsbringer, bald darauf seien sie wieder vergessen oder gar verteufelt. „Vom ehemaligem ‚Superfood‘ grüner Tee spricht heute keiner mehr. Viele sind unsicher, was nun gesund ist, weil es sich ständig ändert.“ Daher solle man Lebensmittel wieder als Ganzes begegnen und nicht in seine Nährwerte zerlegen.

Eigene Filterblasen aufbrechen

Dr. Alexander Beck war hin- und hergerissen. Einerseits müsse man aus seinen Filterblasen ausbrechen und sich anderen Realitäten stellen. Allerdings würden sich die Öko-Hersteller in der Filterblase der Tagung auch gegenseitig stärken. Auch wenn Bio angeblich boomt, muss man ehrlicherweise noch von einer Nische sprechen. Bioprodukte machten 2016 in Deutschland gerade einmal 5,1 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes aus. Nur rund ein Zehntel aller landwirtschaftlichen Betriebe arbeiteten 2017 nach ökologischen Kriterien. Der Weg zu einer echten ökologischen Ernährungswende mit 100 Prozent Biolebensmitteln ist weit.

„Heute war nichts revolutionär Neues dabei“, gab Dr. Isabell Hildermann, Geschäftsleitung Spielberger Mühle, am Ende der Tagung offen zu. „Es waren Themen, über die man aber immer wieder sprechen muss.“ Auch nach Jahrzehnten heißt es für die Branche, Kunden in Sachen guter Qualität zu informieren und dabei den richtigen Ton zu treffen. Es gelte optimale Betriebsgrößen zu finden, um auch bei größeren Mengen das Handwerkliche zu erhalten. Antje Kölling vom Anbauverband Demeter hob hervor, wie wichtig samenfestes Öko-Saatgut und eine entsprechende eigene Züchtung ist. Die meisten Diskurse begleiten die Branche seit Jahrzehnten.

Lotte Rose von Slow Food Deutschland kam auf meinen Einwand zurück, „Eliten-Diskussionen“ in Sachen Genuss zu führen, während es auch beim Essen eine Zweiklassengesellschaft gibt. Auf der einen Seite stehen gut betuchte Genießer, auf der anderen Geringverdiener, die trotz Arbeit kaum über die Runden kommen. „Es ist von Menschen, die erleben nichts wert zu sein, zu viel verlangt, sich auch noch Gedanken um eine Ernährungswende zu machen.“ Daher müsse die soziale Gerechtigkeit stärker im Fokus stehen.

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