Jens Brehl: Warum soll nun die ökologisch nachhaltige Ernährungswende ausgerechnet in den Städten beginnen?
Philipp Stierand: Das Thema Ernährungspolitik wird stets im ländlichen Raum verortet, denn hier ist ja auch die großflächige Landwirtschaft. Doch das Gros der Verbraucher lebt in den Städten. Etliche legen mittlerweile die klassische Rolle des Verbrauchers ab, weil sie mehr wollen, als sich im Supermarkt zwischen einzelnen Produkten zu entscheiden.
Sie beginnen, im kleinen Maßstab selber Lebensmittel zu erzeugen: Auf dem Balkon, im eigenen oder im Gemeinschaftsgarten. Darüber hinaus ordnen sie ihr Verhältnis zur Lebensmittelwirtschaft neu, indem sie Transparenz und Einflussmöglichkeiten fordern. Da entstehen neuartige Formen die eindeutig städtisch sind. Junge Städter nutzen urbane Räume für Experimente und kreative Ideen. Auf diese Weise können Städte zu innovativen Zellen im Ernährungssystem werden und damit auch auf die professionelle Landwirtschaft im ländlichen Raum wirken. So wie etliche Bio-Bauern in den letzten Jahrzehnten die Landwirtschaft ökologisiert haben, so sorgen nun vermehrt Städter für einen neuen Innovationsschub.
Jens Brehl: Wie können Stadtbewohner ökologisch nachhaltig ernährt werden?
Philipp Stierand: Zunächst ist jeweils zu klären, wie das Ernährungssystem einer Stadt gestaltet werden soll, welche Bedürfnisse und welche Möglichkeiten existieren. Planer und Stadtverwaltung wissen vielleicht, wie das Verkehrssystem gestaltet und wo neuer Wohnraum erschlossen werden soll, aber die Ernährung ist in vielen Gemeinden ein weißes Blatt. Ein erster Schritt ist demnach das Erstellen eines Ernährungsleitbildes.
Danach gibt es klassische politische Instrumente, um die Prozesse aktiv zu gestalten und Projekte gezielt zu fördern. Brachflächen eignen sich vielleicht für Gemeinschaftsgärten und man kann den Bürgern Anreize bieten, sich gesund zu ernähren und regionale Produkte zu wählen. Einen großen Hebel gibt es beim Beschaffungswesen, mit dem man einen großen Umsatzfaktor lenken kann. So könnten städtische Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Altenheime und dergleichen regionale Lebensmittel verarbeiten. Zudem könnte man gezielt die stadtnahe ökologische Landwirtschaft fördern. Jede Gemeinde wünscht sich doch, dass ein Großteil der wirtschaftlichen Wertschöpfung in der Region geschieht. Dafür muss man im Vorfeld die passenden Strukturen schaffen.
Jens Brehl: Müssen sich Städte vollständig autark versorgen können?
Philipp Stierand: Wir sollten nicht versuchen, die Stadt alleine von ihrem Gebiet aus zu ernähren. Dies führt ansonsten zu einer noch intensiveren industriellen Landwirtschaft mit dem damit verbundenen gesteigerten Einsatz von Pestiziden und anderen Chemikalien. Auf Dauer können wir uns ein solch energieintensives Wirtschaften nicht leisten. Auch technokratische Gebilde wie Farmhochhäuser, in denen Gemüse in Nährlösungen unter Kunstlicht herangezogen wird, haben wenig mit Natur zu tun.
Vielmehr geht es darum, auch den ländlichen Raum mit einzubeziehen und Synergie-Effekte zu nutzen. Die Abwärme der Stadt könnte beispielsweise in der nahen Landwirtschaft eingesetzt werden, anstatt nutzlos zu verpuffen. Im großen Maßstab ist die Landwirtschaft im ländlichen Raum am besten aufgehoben. Es gilt einen intelligenten Mix aus städtischen Projekten, regionaler Erzeugung und Lebensmitteltransporten aus anderen Gebieten zu finden.
Jens Brehl: Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.
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